Vorwort des Buches
Der siebenbürgische Voltaire. Walther Gottfried Seidner zum 80. Geburtstag
Honterus-Verlag, Sibiu, 2018 (zusammen mit Sunhild Galter)
Zu meinen Erinnerungen aus der Kindheit in der Gemeinde Jaad bei Bistritz gehört unbedingt auch der Name Walther Gottfried Seidner. Als vorletzter Dechant des Bistritzer Kirchenbezirks war mein Vater Heinz Galter auch für den jungen Pfarrer in Sankt Georgen am südwestlichen Rande des Nösnerlandes zuständig.
Wir Kinder konnten es kaum erwarten, dass die beiden ihre dienstlichen Angelegenheiten erledigt hatten, damit er sich vor dem Mittagstisch auch mit uns Kindern abgeben konnte. Er tat das für uns Kinder auf wundersame Weise, ja, er verzauberte uns, indem er uns durch sein Dasein faszinierte. Nicht nur die Geschichten, die er uns erzählte, entführten uns in eine Wunderwelt, nein, mehr noch, er konnte richtig zaubern! Wir waren zu dritt und hatten jeder seinen kleinen grünen Tirolerhut, den wir bei festlichen Anlässen mit weißem Hemdchen und kurzen Lederhosen tragen durften. Mit diesen drei Hütchen auf einem niedrigen Tischchen aufgereiht erwarteten wir den Magier. In seiner Gegenwart machten wir dann Kügelchen aus Papier und versteckten sie unter den Hütchen. Gebannt verfolgten wir die Handbewegungen des Zauberers unter dem Tisch, bis er uns aufforderte, diesen oder jenen Hut zu lüpfen. Immer waren die Kügelchen anderswo und nie dort, wo wir Kinder sie hingegeben oder erwartet hatten. Der Ruf zu Tisch holte uns dann meist aus diesem Staunen in die normale Welt zurück.
Unsere Familie übersiedelte im Sommer des Jahres 1965 in die Landlergemeinde Neppendorf. Es war eine große Umstellung auch für uns Kinder, da hier ein anderer Dialekt des Sächsischen, aber vor allem 8 Der siebenbürgische Voltaire die landlerische Mundart gesprochen wurde. Unser Hund Wolfi war aus Jaad mit uns mit übersiedelt, doch irgendwann verstarb er und wir begruben ihn ganz traurig in der Fliederallee im Kirchhof. Um uns abzulenken, schickten unsere Eltern meinen zwei Jahre älteren Bruder und mich mit dem Fahrrad los, den Pfarrer in Reußdörfchen zu besuchen. Groß war unsere Überraschung und umso größer die Freude, als wir dort unserem Magier begegneten und noch größer war unsere Freude, als er uns ein Hündchen in die Arme drückte; in einer Tasche nahmen wir es auf dem Fahrrad mit nach Neppendorf und von „Lady“ entstammten dann mehrere Generationen von lieben und treuen Hunden, die in den Pfarrerkreisen gefragt und auch gerne weitergereicht wurden.
Ich besuchte dann noch öfter den Pfarrhof in Reußdörfchen und mich faszinierten vor allem die Kunstobjekte, die in der Arbeitsstube zu sehen waren. „Alles auf dem Weg vom Kuckucksberg nach Reußdörfchen aufgesammelt“ sagte der Pfarrer „und mit Freude und Phantasie zusammengeschweißt“! Es waren daraus Stehlampen aus Hufeisen geworden, mit einem Fuß aus dem Kühlerpropeller eines Traktors, Drähte und Metallstücke von Arbeitswerkzeugen mit den Eisenteilen von den Pferdewägen wurden zu Kunststücken verbunden… Aus Verlorenem und aus dem Staub der Landstraße Aufgehobenem wurde durch Phantasie und Gestaltungswillen Neues geschaffen.
Später erlebte ich Walther Seidner als Pfarrkollegen, der von Reußdörfchen nach Stolzenburg gewechselt hatte. Ich fragte mich damals manchmal, wie er den Bogen zwischen seiner traditionell-liturgischen Verfasstheit, seinem anspruchsvollen und tiefgründigen Predigtaufbau und seinem immer präsenten Humor, der auch in der verfahrensten Situation den Knoten aufgehen ließ und die Spannung und die Wogen glättete, schaffte. Heute weiß ich, dass er in jedem Menschen das Gute sah und ihn als Gottes Schöpfung annahm. Und jedem eröffnete er auch einen Blick aus einer anderen Perspektive.
Dieses Buch eröffnet dem werten Leser auch Blicke auf die Person Walther Gottfried Seidner aus jeweils anderen, zumeist persönlichen Perspektiven. Was kann einem schon zu solch einem Jubiläum Schöneres widerfahren? Andreea Dumitru, die selbst von dem Stolzenburger Pfarrer geprägt wurde, setzte die Idee zu diesem Buch in die Tat um und sammelte Erinnerungen und Beiträge von Menschen, die Walther Gottfried Seidner in seinem 80-jährigen Leben begleitet haben oder ihm immer wieder da und dort begegnet sind. Es gibt facettenartige Einblicke in das Leben von unserem ganz in Siebenbürgen beheimateten „Voltaire“, wie er von den meisten liebevoll genannt wird. Seine eigenen vielseitigen literarischen Werke sprechen für sich und gehören gewiss zum wertvollen Schatz siebenbürgischer und auch sächsischer Literatur, doch diese Sammlung ergänzt das Bild dieses vielseitigen Künstlers. Für mich selbst ist er ein Magier geblieben. Ich habe vieles von Walther Gottfried Seidner lernen können, ich habe noch andere Hunde von ihm übernommen, die mich Abschnitte meines Lebens begleitet haben, ich durfte dann selbst seiner Familie in schwierigen Situationen helfen, aber sein Zauber in meiner Kindheit ist mir geblieben. Alles in allem bin ich ihm zu aufrichtigem Dank verpflichtet und wünsche ihm Zuversicht und Gesundheit und auch allen Lesern viel Freude und manche Überraschung auf den folgenden Seiten.
Dietrich Galter (Pfarrer)