Tief ist der Brunnen der Vergangenheit
Bemerkungen zu dem neuen Buch von Eginald Schlattner, ,,Schattenspiele toter Mädchen“
Was bleibt am Ende eines bewegten Menschenlebens? Einzig und allein die Erinnerung an vergangene Zeiten. Die Vergangenheit mutiert deshalb teilweise zur Gegenwart und begleitet uns treu, bis wir unser irdisches Leben beenden; die Zeit weist fließende Grenzen auf und der sich Erinnernde kann nicht mehr unterscheiden, ob seine Wahrheit der erlebten Wirklichkeit entspricht. Die Zeit nehmen wir subjektiv wahr und erinnern uns manchmal selektiv an Vergangenes.
Vergangenheit und Gegenwart, Verblichene und Lebende – darüber schreibt Eginald Schlattner in seinem jüngst im Pop-Verlag, Ludwigsburg, erschienenen Roman ,,Schattenspiele toter Mädchen“.
Es ist das Werk eines erfahrenen Schriftstellers, das nicht nur durch die behandelte Thematik überzeugt, sondern auch durch die technischen Aspekte, die sich als Neuheit in der Romangestaltung erschließen lassen. Dass das Leben und der Tod eng miteinander verbunden und der Zeit untergeordnet sind, kommt schon im Klappentext eindeutig zum Vorschein: Rainer Maria Rilkes Schlussstück zeigt, wie schnell der Tod in uns gegenwärtig sein kann: „Der Tod ist groß. / Wir sind die Seinen / lachenden Munds. / Wenn wir uns mitten im Leben meinen, /wagt er zu weinen / mitten in uns.“ und deutet indirekt darauf hin, dass das vergängliche Leben mit den auf dem Weg gesammelten Erfahrungen als wertvoll eingestuft werden sollte. Wir hasten ein Leben lang und erreichen manchmal niemals das von uns gesetzte Ziel; genauso ergeht es den beiden Brüdern, dem Ich-Erzähler und seinem jüngeren Bruder, Uwe, die mit den Fahrrädern ein fiktives Dorf aus Siebenbürgen erreichen wollen. Ihre Tour dient als Rahmen für den gesamten Text, der durch die vielen aufeinander abgestimmten Zeitebenen ein abgerundetes Bild eines bewegten Daseins abgibt. Der Ich-Erzähler Eginald beschreibt seine Erfahrungen, indem er bestimmte Schwerpunkte setzt; einige Sachverhalte aus den Vorgängerromanen werden teilweise wiederholt bzw. erklärt. Handelt es sich aber bei dem Ich-Erzähler um den Schriftsteller Eginald Schlattner? Diese Frage wird im Text wie folgt beantwortet: „Selbst wenn mein unverwechselbarer Vorname im Text genannt wird, ist das keineswegs zu verwechseln mit dokumentarischer Memorialistik. Sondern der Text hat gewichtet und gewertet zu werden allein als literarisches Produkt.“ Nicht nur der Ausflug der zwei Kinder, der übrigens kurz vor dem Ende des Zweiten Weltkrieges stattfindet, sondern auch die Bezüge zum Rothberger Pfarrhof und zur Gemeinde aus dem Dorf werden von dem Schriftsteller bewusst betont – auch wenn er zeitlich einen großen Sprung wagt. Wer schon mal als Gast in Rothberg war, kann die Orte und die Gestalten aus dem Buch nachvollziehen: Die Kirche mit ihrem Wehrturm, der Park, die Burghüterin Ioana, die „braunen Brüder vom Bach“, der Friedhof, das Pfarrhaus mit seiner alten Baugeschichte – all diese Elemente sind nicht nur Bestandteile eines epischen Werkes, sondern Komponenten des jetzigen Lebens von Eginald Schlattner.
Wenn man ein bestimmtes Alter erreicht hat, findet eine aktive Auseinandersetzung mit der eigenen Vergangenheit statt, die einem hilft, die Ruhe und das Gleichgewicht zum Lebensabend zu erlangen. Der vorliegende Roman ist der Versuch eines solchen Umgangs mit der Vergangenheit. Es geht hier um Freundschafts- und Liebesbeziehungen, die das Dasein des Ich-Erzählers prägen.
Im Text erscheinen insgesamt dreizehn Frauengestalten, wobei eine von ihnen keinen Namen trägt. Diese haben zwei Gemeinsamkeiten: Sie sind bereits tot und hatten im Laufe ihrer Biographie eine Beziehung zum Ich-Erzähler Eginald. Die Nachricht über ihren Tod wird auch thematisiert, indem zeitliche Bezüge hergestellt werden: Der Ich-Erzähler bekommt meistens Briefe, die das Ableben der ehemaligen Freundinnen bzw. Geliebten verkünden. Die damalige Liebesbeziehung rückt schrittweise in den Vordergrund; die Mädchen bzw. die Frauen haben den jungen Mann eine bestimmte Etappe in seinem Leben begleitet, doch hat deren Verhältnis zueinander zu keiner langfristigen Beziehung geführt – die Ausnahme bildet Susanna Dorothea. Viele dieser weiblichen Figuren treten während der ursprünglichen Beziehung auf, um dann später erneut aufzutauchen, um dem Ich-Erzähler die Chance zu geben, bestimmte Verhaltensweisen zu erklären oder gewesene Sachverhalte besser zu verstehen.
Die Schülerliebe Elinor Maurer, das halbadlige Mädchen, verzaubert den Jungen durch ihre Erhabenheit: „Das fremde Mädchen trotzdem nahe!“, die ihr auch im Erwachsenenalter erhalten bleibt. Das Wiedersehen nach der Silvesternacht 1950 findet fast 30 Jahre später auf dem Rothberger Pfarrhof statt: „Wir blieben in der Kirche, sie und ich. Wie lange? Es schien, als hörte die Zeit auf, durch die Jahrhunderte zu rieseln.“ Der Ich-Erzähler segnet seine ehemalige Jugendliebe „zum Abschied für immer“; diese endgültige Trennung vollzieht sich aber erst mit ihrem Tod: „Der Schmerz der Nachricht vom Tod traf mitten ins Gemüt. Versehrte die Erinnerung. Die Zeit verstummte. Der Tag wurde angehalten. Jegliche Geschäftigkeit erlosch. Die Trauer, sie galt ihr allein.“
Zum jüdischen Mädchen Gisela Judith Glückselich ergibt sich eine besondere Beziehung, die sich durch mehrere Abschnitte bzw. Treffen kennzeichnet. Als Jugendlicher versucht der Ich- Erzähler sie vor den national- sozialistischen Jugendgruppen zu verteidigen, sodass er selber dafür bestraft wird. Ein weiteres Treffen findet in einem Sanato- rium des Proletariats statt: „Wir waren jenseits der fünfundzwanzig. Doch beide behaftet mit einer Biographie. Das Gemeinsame war, wie sich tastend herausstellte: dass wir keine Vorstellung von der eigenen Zukunft hatten.“ Die letzte Begegnung ist mit einem starken Schock verhaftet. Die israelische Staatsbürgerin Glückselich besucht den Ich-Erzähler, der schon als Pfarrer in Rothberg tätig ist, um mit ihm über seine Vergangenheit zu sprechen. Welche genau ihre Rolle ist, kommt nur verschwommen zum Vorschein: Ihre Sätze beginnen obsessiv mit der Formulierung „man weiß/wisse“ – „Judith aus Israel fuhr fort mit ihrem von weit hergeholten Wissen über Beredtes im Verborgenen, als legte ich die Beichte ab. Sie kannte alles, fast alles. Und ich wunderte mich nicht.“
Das Verhältnis zu Adele Heide Pretajer führt zu einer außerehelichen Beziehung. Der Ich-Erzähler ist mit Susanna Dorothea verheiratet, doch er fühlt sich zu der jungen Assistenzschwester aus Kronstadt hingezogen. Im Vergleich zu der „Sprachlosigkeit zu Hause“ wird nun Folgendes angeführt: „Das Gespräch zwischen Adele und mir ging weiter in der Zeit, lange Zeit, und verzweigte sich in Landschaften mit Orten phantastischer Sonnenaufgänge…“ Die Beziehung bricht ab, Frau und Kind sind die Zukunft für die Gestalt Eginald. Weitere Frauenfiguren sind im Roman Schattenspiele toter Mäd- chen zu entdecken: Agathe Engelleiter, die einstige Kinderliebe, Deli Nägler, alias Adele Maria von Kunzendorf, das arme Mädchen enteigneter Siebenbürger Sachsen, Brigitte Elsen, das ungeküsste Mädchen, Marianne Siegmund, die Studentenliebe, die den Ich- Erzähler Jahre lang bevormundet und ihn dem rumänischen Sicherheitsdienst ausgeliefert hat, Elfi Zeidner, die junge Pfarrerstochter, mit ihrer Schwester Anita, Erna Lang, das Mädchen, das den Ich-Erzähler „umsonst geliebt hat“, Ana Maria Cristina Roman, der der Roman Das Klavier im Nebel gewidmet ist, Dietrun Beate Liehner, die kranke „rebellische Tochter von Lehrersleuten“, Susanna Dorothea, die Ehefrau an der Seite des Ich-Erzählers, und die Unbekannte aus Fogarasch.
Was ist wahr an diesen Erlebnissen? Was ist erdacht? So die Antwort im bereits erwähnten Klappentext: „Ich meine, dass es in jeder Geschichte einen Angelpunkt geben muss, wo sich erinnerte Wahrheit und wahre Geschichte in den Armen liegen.“ Als einzige Tatsache gilt die Sehnsucht des Erzählers bzw. des Schriftstellers nach versunkenen Gesichtern, nach „Menschenkindern“, die „durch ihren Tod unbegreiflich geworden sind“. Die Erinnerung wird erweckt und vergegenwärtigt: „Es gilt, verblichene Gestalten wachzurufen, so dass ihre Gegenwart weh tut zwischen Gedächtnis und Phantasie.“ Trauer überschattet die Rückbesinnung, denn ein Wiedersehen mit den ehemaligen Frauen aus seinem Leben ist nicht mehr möglich. Alles erscheint im Zwielicht, es fehlen die klaren Umrisse, es fehlt die Zukunft. Der Tod wird zur Gewissheit, der Ich-Erzähler spricht die letzten Worte: „Wir kommen uns dauernd näher. Der Tod? Das Schweigen Gottes.“
Andreea DUMITRU